OGH-Entscheidung zu grenzüberschreitendem Kündigungsschutz: Was Arbeitnehmer und Arbeitgeber wissen müssen
Der OGH hat in einem wegweisenden Urteil entschieden, wie der österreichische Kündigungsschutz nach dem ArbVG (zB Kündigungsanfechtung wegen Sozialwidrigkeit nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG) bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen anzuwenden ist. Die Entscheidung 9 ObA 94/24z bringt sowohl wichtige Klarstellungen als auch neue Probleme mit sich, die sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber betreffen.
Der Fall und seine Bedeutung für die moderne Arbeitswelt
Der konkrete Fall betraf einen Arbeitnehmer, der dauerhaft von Wien aus für eine deutsches Unternehmen tätig war, dabei jedoch organisatorisch vollständig in den deutschen Betrieb integriert war. Nach seiner Kündigung wollte er sich auf den österreichischen Kündigungsschutz berufen. Dieser Fall ist typisch für die moderne Arbeitswelt, in der physischer Arbeitsort und betriebliche Zugehörigkeit zunehmend auseinanderfallen.
Der OGH stellte (nach umfassender Listung des Meinungsstandes) zunächst eine wichtige Klarstellung auf: Der allgemeine Kündigungsschutz nach österreichischem Recht folgt kollisionsrechtlich dem Arbeitsvertragsstatut (Art 8 Rom I-VO). Das bedeutet konkret, dass wenn österreichisches Arbeitsrecht auf einen Arbeitsvertrag anwendbar ist, beispielsweise weil der Arbeitnehmer gewöhnlich in Österreich arbeitet, dann gelten auch die österreichischen Kündigungsschutzregeln (§§ 105 ArbVG). Diese Entscheidung beendet eine jahrelange Rechtsunsicherheit und folgt der autonomen unionsrechtlichen Auslegung der Rom I-Verordnung.
Die problematische Einschränkung
Trotz dieser grundsätzlich positiven Klarstellung bleibt eine entscheidende Hürde bestehen. Nach dem OGH setze der österreichische Kündigungsschutz materiell-rechtlich auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten das Vorhandensein eines in Österreich gelegenen Betriebs voraus. Diese Einschränkung bedeutet, dass auch wenn österreichisches Arbeitsrecht gilt, sich der Arbeitnehmer nur dann auf den österreichischen Kündigungsschutz berufen kann, wenn sein Arbeitgeber tatsächlich einen Betrieb in Österreich hat.
Die Begründung des Gerichts stützt sich auf die systematische Einbettung des Kündigungsschutzes in das Betriebsverfassungsrecht. Der allgemeine Kündigungsschutz ist im Betriebsverfassungsrecht verankert, konkret im zweiten Teil des Arbeitsverfassungsgesetzes bei den Befugnissen des Betriebsrats. Das Gericht argumentiert, dass der österreichische Kündigungsschutz von seiner Konzeption her die Mitwirkung der nach dem Arbeitsverfassungsgesetz bestellten Belegschaftsorgane verlangt. Damit schlägt der OGH die Brücke vom individualarbeitsrechtlichen Kollisionsrecht zum betriebsverfassungsrechtlichen Kollisionsrecht.
Kritische Bewertung der Rechtsprechung
Aus rechtsmethodischer Sicht ist diese Entscheidung problematisch, weil das Gericht praktisch zweimal dasselbe prüft. Zunächst wird bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art 8 Rom I-VO im Rahmen der Sachnormverweisung festgestellt, dass österreichisches Recht gilt, dann wird bei der sachrechtlichen Anwendung erneut geprüft, ob dieses Recht (kollisionsrechtlich) auch wirklich anwendbar ist. Dies führt zu einem Widerspruch in der Rechtsmethodik und verwässert die klare kollisionsrechtliche Struktur.
Stattdessen hätte der OGH – bei konsequenter Zuordnung des individualrechtlichen Kündigungsschutzes – die erneute Befragung des betriebsverfassungsrechtlichen Kollisionsrechts unterlassen sollen. Schließlich macht es für den auf den Arbeitnehmer zentrierten Kündigungsschutz keinen Unterschied, wo sich dessen Betrieb befindet – solange es einen solchen gibt.
Unionsrechtliche Dimension
Der OGH verankert das betriebsverfassungsrechtliche, dogmatisch unzureichend aufgearbeitete „Territorialitätsprinzip“ im Bereich des nach Art 8 Rom I-VO anzuwendenden Kündigungsschutzes. Der Revision seiner nunmehr anders begründeten, fortgeschriebenen Rechtsprechungslinie durch Vorabentscheidungsverfahren möchte der OGH insoweit vorbauen, als dieser in der einschränkenden Auslegung des Kündigungsschutzrechts eine bloße Beschränkung sieht, die ein zu ungewisses und zu indirekt wirkendes Ereignis sei, als dass sie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtigen könnte (Rz 73 f). Ob diese Ansicht im Lichte des Art 30 GRC (dauerhaft) aufrechterhalten werden kann, ist fraglich.
Konsequenzen des Urteils
Die praktischen Folgen sind bekannt, aber dennoch erheblich: Arbeitnehmer, die von Österreich aus für ausländische Unternehmen arbeiten, haben keinen österreichischen Kündigungsschutz nach dem ArbVG, selbst wenn österreichisches Arbeitsrecht grundsätzlich anwendbar ist. Dies führt zur Entstehung von Schutzlücken für remote arbeitende Personen und kann internationale Unternehmen dazu verleiten, bewusst keine österreichischen Betriebe zu errichten.
Die Entscheidung verdeutlicht die grundsätzlichen Schwierigkeiten des traditionellen Betriebsverfassungsrechts im Umgang mit modernen Arbeitsformen. Zum einen stoßen Betriebsorganisationen in solchen Konstellationen sprichwörtlich an die Grenzen der Rechtsordnung, besonders in Österreich. Zum anderen wird in solchen Organisationsformen deutlich, dass das (österreichische) Betriebsverfassungsrecht für traditionelle, hierarchisch und dualistisch organisierte Arbeitsformen entwickelt wurde. Moderne Organisationen (zB virtualisierte Matrixorganisationen) sind jedoch durch verwobene und verflochtene Weisungsstrukturen und eine Diffusion klassischer Betriebsstrukturen gekennzeichnet. Das führt schon auf rein nationaler Ebene zu Problemen, ganz zu schweigen von den Herausforderungen bei Kombination der beiden Szenarien.
Fazit
Die Entscheidung des OGH stellt nur auf den ersten Blick einen Meilenstein in der kollisionsrechtlichen Behandlung grenzüberschreitender Arbeitsverhältnisse dar. Während die Klarstellung zur individualrechtlichen Einordnung des Kündigungsschutzes begrüßenswert ist, ist die dann erfolgende Beschränkung auf Arbeitnehmer in österreichischen Betrieben weder auf Grundlage des Wortlauts, der Systematik noch des Kollisionsrecht geboten.
Dass das Arbeitsrecht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten komplex und oft unvollständig ist und damit Gerichte vor Herausforderungen stellt, ist bekannt. Ungeachtet der dogmatischen Vorbehalte wird der OGH mit vorliegenden Entscheidungen den Realitäten der digitalisierten Arbeitswelt keineswegs gerecht. Es bleibt zu hoffen, dass die Entscheidung nicht das Ende, sondern den Beginn einer notwendigen Diskussion über die Zukunft des internationalen Arbeitsrechts in einer zunehmend vernetzten und virtualisierten Arbeitswelt markiert.
Kontaktieren Sie unseren Partner Christoph Ludvik (Employment) bei Fragen zum Kündigungsschutz in grenzüberschreitenden Konstellationen.